Photo: Konstanze Meindl
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Unerwartbarkeiten als Vorhersehbarkeiten

Dieser erfahrungsorientierte Workshop-Vortrag richtet sich an Pädagogen und Psychologen, die ihr professionelles Handwerkszeug um einige praktische und einfache Ansätze aus der Schauspielkunst erweitern wollen und die daran interessiert sind, die Möglichkeiten ihrer Schüler und Klienten zu erweitern, indem sie ihnen nützliche und leicht verständliche Ansätze für ein besseres Selbstbild anbieten.

Schauspielen wird seit langem als Mittel zur Förderung der Persönlichkeitsbildung in Schultheatergruppen, Dramatherapie etc eingesetzt. In diesem Zusammenhang wird es oft als ein Mittel der Selbst-Ausdrucks betrachtet. Diese Konzeptualisierung enthält versteckte Behauptungen, die hinterfragt werden sollten. Das „Selbst“ wird hier als etwas betrachtet, das bereits „ist“ und das nur noch von innen nach außen gestülpt werden müsste, um sichtbar zu werden. Diese Behauptung postuliert das Selbst als etwas Stabiles, das durch seine Stabilität auch die Umwelt kontrollieren würde, da alle Ereignisse in Relation zu diesem messstabsartigen stabilen Selbst gemessen werden müssten. Es ist zu vermuten, dass diese Konzeptualisierung einige Vorteile zugunsten einer Unsicherheitsreduktion für bevorstehende Handlungen bietet. Bei näherer Betrachtung bleibt jedoch unklar, nach welchen Parametern ein als „Selbst“ empfundener innerer Zustand seine Entsprechung in einer „ausgedrückten“ spezifischen Handlungslinie in einer Umwelt finden soll. Eine Behauptung, dass eine Handlungslinie tatsächlich das Selbst repräsentiert, kann weder bestätigt noch falsifiziert werden. Noch fragwürdiger wird die Konzeptualisierung, sobald es sich bei der Umgebung um einen anderen Menschen mit einem anderen vermeintlichen „Selbst“ handelt, das den Anspruch erhebt, ebenso stabil zu sein wie das erste. Das Beharren auf dem Selbstausdruckskonzept birgt die Gefahr, alle nicht optimal passenden Reaktionen des anderen menschlichen Akteurs als unwillkommenen Eingriff zu interpretieren, der den Ausdruck des eigenen Selbst behindert. Und durch das Beharren auf dem Recht auf Selbst-Ausdruck des einen wird unweigerlich das Recht auf Selbst-Ausdruck des anderen beschnitten. Deshalb kann das Konzept des Selbst-Ausdrucks nicht funktionieren, bietet kein Konzept für die rückkopplungsbasierten Ausverhandlungen, die vorgenommen werden müssten, bremst eigentlich die Entdeckung der Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Interaktion und landet schnell bei einer Regulierung von oben durch die Auferlegung von starren Verhaltensregeln für zwischenmenschliche Vorgänge, die den Freiheitsrahmen für zwischenmenschliches Verhalten dann letztendlich, entgegen aller ursprünglichen Absicht, auf ein Minimum reduzieren.

Dieser Workshop lässt die Selbstausdruckskonzeptualisierung hinter sich, erkennt aber ausdrücklich das dahinter vermutete Streben nach Unsicherheitsreduktion an. Er orientiert sich an einer prozessorientierten Konzeption des Menschen. Diese Konzeptualisierung betrachtet das Selbst als etwas, das wir nicht kontrollieren können, sondern das sich nach und nach entlang einer Linie von Handlungen herausbildet, die aber wiederum durch Fähigkeiten überwacht, kontrolliert, verändert und angepasst werden können, und die auch verbessert werden können. Die Selbstorganisation entlang der Handlungslinie führt uns als Entdecker ins Unbekannte, nicht nur in die unbekannte Umwelt, sondern damit einhergehend auch in unser noch unbekanntes, noch nicht vorhandenes Selbst aller zukünftigen Momente. Entlang einer Handlungslinie wird das Unvorhersehbare zu dem, womit man lernen kann, zu rechnen und umzugehen. Auf diese Weise kann die Ungewissheit des Ausgangs der zwischenmenschlichen Interaktion zu einem die Neugierde anregenden Erkundungsraum für die Entdeckung von Möglichkeiten werden.

“Man weiß, wo man steht, und trotzdem fühlt man sich gut.”